Reiche Verwandte

 

Episode 9 – „Misslungener Eingriff ins Schicksal“: (aus „kurze Lebensbeschreibung und Jugend-erinnerungen“ verfasst von Christian Tinner, geboren 1880)

„Es war im Sommer 1886, ein wunderschöner Sonntag, da machten meine Eltern und Geschwister irgend eine kleine Reise. Nur ich, der Erstklässler, musste zu Hause bleiben als „Pfleger“ der Ziege. So lieb mir auch unsere Ziege war, erbitterte es mich doch, dass gerade ich nicht mitgehen durfte. Aber ich hatte ja einen ganzen Tag Zeit genug herauszustudieren, wie ich mein „Los“ verbessern könnte.

In Haag, dem nächsten Dörfchen, hatte ein Bruder meines Vaters ein Heimwesen und war nach unseren Begriffen „sehr reich“, denn er hatte Pferde und etwas Vieh. Wenn wir hie und da dort einen Besuch machen durften, bekamen wir gut zu essen. Da er eine alte Frau hatte, waren sie kinderlos. Sie waren gut mit uns. Er war auch unser Götti. Er hätte immer gerne meine ältere Schwester Anna zu eigen annehmen wollen, aber unsere Eltern gaben sie ihm nicht. Diese Umstände ergaben für mich den „diplomatischen Angriffspunkt“.

Als am frühen Abend die Eltern und Geschwister heim kamen, fragte mein Vater, ob niemand gekommen sei. Die L ü g e: „Woll dr Götti, er het gsoat, wenn er s’Anneli nöd öberchömm, so chönn gad i zonem cho“. Der Vater sagte sofort: „ens ist mir no eher gliich“, packte meine Habseligkeiten zusammen, hiess mich die Schultafel selber tragen, nahm mich an die Hand und führte mich dem Kanal entlang nach Haag. Ich sehe immer noch, wie mein Schwamm an der Tafel hin und her baumelte und wie mein Gewissen immer stärker an meinem armen Herzli pochte. Als wir zum Götti kamen, wäre ich am liebsten in einem Mausloch verkrochen. Es entspann sich ungefähr folgendes: Vater: „Grüezi Andres, i bring der do de Christe“. Götti: „Jo was ist denn do loas?“ Der Vater war baff: „Du hest doch gseit, de Götti sei do gsi und heis gseit“. Götti: „Soa, soa, nei du gang du no wider hei, jez willi di erst recht nöd, en deriga strohlige Lüüger“.
Der Vater wurde recht traurig, nahm mich wieder an die Hand und kehrte mit mir heim. Ich weinte auf dem ganzen Weg und schämte mich grenzenlos. Der Vater sagte mir: „Chomm jez no, du chast denn wieder fädle, aber l ü ü g e tuestmer denn nie mea.“ Er schlug mich nicht, es war mir als würde er meine Hand zärtlicher halten als vorher. Ich glaube, sein Erbarmen war noch grösser als meine Scham und Reue.“