Teures Schulmaterial

 

Episode 14 – „Schulmaterial für 35 Franken“: (aus „kurze Lebensbeschreibung und Jugenderinnerungen“ verfasst von Christian Tinner, geboren 1880)

„Ich hatte Gelegenheit von früheren Realschülern Bücher billig zu kaufen und wies sie dann dem Lehrer vor. Er sagte: „Ja nun, sie sind eben nicht gleich wie die der anderen Schüler, aber du kannst wohl nicht gut die neuen auch noch kaufen, ich will dir diese belassen“. Das betraf die Physiklehre, das bürgerliche Geschäftsrechnen, Welt- und Schweizergeschichte, Naturkunde usw. Aus diesen Büchern konnte ich wenig holen und war auf den Unterricht in der Schule und mein Gedächtnis angewiesen.

Die anderen kauften auch jeder ein neues Reiszeug für ca. 20 Franken und ich hatte ein Bazar-Reiszeug für Fr. 3.30 und ein altes Käppi. Der Thek war von meinem Vater aus Karton selbst hergestellt. Die Bekleidung blieb immer so bescheiden wie mein Wachstum und die Ernährung blieb ebenfalls gleich mangelhaft. Aber das alles machte meiner Lernbegierde keinen Einfluss.

… Die andern Schüler hielten jeweilen die Hand hoch, wenn sie glaubten die richtige Antwort zu wissen. Da ich einen Freiplatz hatte, liess ich auch den anderen den Vorrang und hielt nicht auf, ausser beim Kopfrechnen und nur wenn der Lehrer mich grad anschaute, dann aber zog ich den Finger sofort wieder zurück. Aber er liess mich nicht einfach sein. In allen Fächern forderte er mich ganz unverhofft auf. Dann stand ich auf, legte die Arme übereinander, wiederholte die Frage, gab deutlich meine Antwort und sass wieder ab.

Gegen den Frühling des ersten Schuljahres suchte ich so viel wie möglich auch in den Deutschstunden die Antworten französisch zu geben. Einmal hiess es am Schulschluss: „…. du gibst mir in den Deutschstunden oft französische Antworten und sie sind gut; aber höre, ich darf in den Deutschstunden nicht französische Antworten annehmen, wenn ich verklagt würde, würde ich bestraft.“… „Ich danke Ihnen Herr Lehrer, ich will es in Zukunft unterlassen“.

Einmal gab es ein unliebsames Vorkommnis . Mein Nebenschüler J.O. hätte in der Französischstunde antworten sollen und konnte es nicht, da sagte ich‘s ihm. Der Lehrer war hinter uns. J.O. gab die Antwort, aber der Lehrer fragte „Hast du es selbst gewusst?“ J.O. wurde rot; „nein du hast es nicht gewusst, der Tinner hat dir eingeblasen; an mich gewandt: „Hast du eingeblasen?“ „Ja, Herr Lehrer“. „Du schreibst mir auf morgen hundert Mal: Man soll nicht einblasen“. Die Klasse erhielt auf morgen sehr viele Hausaufgaben, die ich natürlich auch zu machen hatte. Als ich mit diesen fertig war, schlug es Nacht 1 Uhr. Nun kam die Strafaufgabe daran, aber ich war furchtbar müde. Ich probierte, was geht rascher, deutsch oder „il ne faut pas souffler“. Ich schrieb auf den Bogen „Strafaufgabe“, darunter die Zahlen I bis 100 schön untereinander. Nun schrieb ich den Satz einmal deutsch und fünf Mal französisch. Als am Morgen der Lehrer meine Strafaufgabe sah, rief er mich her. „Was musstest du schreiben? Warum hast du’s französisch geschrieben?“ „Es war Französischstunde“. … „Warum hast du nur 5 Mal geschrieben?“ Ich erzählte ihm, dass ich immer bis zehn Uhr fädeln müsse , dass ich um ein Uhr sehr müde war und nicht mehr schreiben konnte. „Nun ja, ich will es dir glauben, geh an den Platz…“. „Ich danke, Herr Lehrer“ sagte ich und atmete tief auf.

Das Examen dauerte bis Mittag 12 Uhr. Dann bekamen wir im Hirschen in Frümsen ein gutes Mittagessen. Nachher hatten wir noch Deklamationen und Lieder vorzutragen und durften auch noch hören, wie die Gastwirtin den Herren Schulräten Lieder vorsang und dazu Klavier spielte. „Die Sonne sank im Westen mit ihr die heisse Schlacht“.

Dann kam die Ferienzeit: Sie war mir fast eine Ewigkeit. Meine Ferien brachte ich am Fädlertische zu. … Ich sehnte mich nach dem Wiederbeginn der Schule. …Es war mir recht wohl zu Mut wieder im lieben Schulzimmer zu sein und den weisen Lehren zu folgen. Leider sollte aber meine Freude bald eine Trübung erfahren. Schon nach wenigen Wochen munkelten einige Mitschüler, deren Väter mehr wussten als meiner, unser Reallehrer gehe fort, er habe die Stelle gekündigt. Ich kam in Kummer und es ging auch nicht lange, da musste ich wieder dableiben. Als dann die anderen draussen waren, sagte der Lehrer: „Tinner, es tut mir leid, du schuldest mir für Schulmaterialien etwa 35 Franken, und ich kann sie dir leider nicht schenken, weil ich selber auch nicht vermöglich und zudem hier nur schwach belohnt werde.

Lokomotivführer bestraft mit Ohrfeigen

Auf den Artikel Ziegen stoppen Zug in Salez habe ich einige Zuschriften erhalten und möchte folgende Bemerkungen hiezu noch anbringen: Ich denke, der Lokführer hatte gut reagiert, Ohrfeigen waren zu verschmerzen, eine Geldstrafe hätte unnötigerweise grösseren Schaden angerichtet. Der Junge sah seinen Fehler ein und wurde dafür bestraft – der Heimweg an den vielen Frauen vorbei war vielleicht schlimmer.

Das damalige Zugpersonal wird übrigens in dieser Lebensgeschichte mehrmals liebenswert erwähnt:

…Der Stationsvorstand kannte mich wohl, aber er wusste auch, dass wir arme Leute waren und drückte ein Auge zu. Einmal stand gerade ein grosser, dicker Herr bei ihm, als ich mein Billet bestellte: “Oberriet retour”. Der Vorstand war auch sehr korpulent und fragte mich: “Ja, wie alt bist du?” “Nüni g’si”. Die beiden blinzelten einander lächelnd an. Ich war damals etwa 13 Jahre alt und hatte es schon gespannt, dass sie sich ein wenig belustigen wollten. Dann lächelte aber auch ich und sagte: “Es ist aber o nöd i dr Ornig, dass me dr Pris noch am Alter asetzt, es sött nochem Gwicht goo”. Bravo rief der Vorstand und beide schauten mich lieb an und lachten herzlich…

„… Einmal hatte ich meine Handschuhe einfach nicht mehr und wusste gar nicht, wo ich sie vergessen oder verloren habe. Als ich wieder mein Billet lösen kam, fragte der Vorstand ob ich nichts zu wenig hätte. “Jo woll d’Hendscha”. “Lueg do sinds” und gab sie mir. “Die sind jetzt d’Sangalle inne gsi. De Kundigtör heds bhönnt und hed gseit, die ghörend em seba chlina Büebli wo allemol vo Salez of Oberriet abi fahrt.” Ich war sehr froh, dankte und sagte noch dazu: “I wött i wär o drbi gsi”…

„… Der Stationsvorstand von Oberriet sass als alleiniger Gast am runden Tisch. Der kannte mich vom vielen Sehen und sagte: “Lueget jez chunt s’Salezer Büebli”. Die kleine dicke Wirtin kam herbei und fragte recht freundlich was ich wünsche. “E Pürli” und der Vorstand sagte “jo Büebli do muest no lang warte, sitz du no e chli ab” und zur Wirtin “gend ihm do e Gläsli Wii dass er cha verwarme, magst?”…

„… Schläge waren sich die Jungs doazmol gewohnt, hier ein Beispiel aus der Schule … weil andere Schüler – nicht alle – auch sehr oft körperliche Strafen erhielten, weil sie nicht zu antworten wussten. Vielleicht hat er (der Lehrer) nicht gewusst, dass man einem Gelehrsamkeit und Weisheit weder durch Hände noch durch die Haare oder den Hintern eingeben kann. In dieser Beziehung war er aber tatsächlich ein sehr geplagter Mann, denn es gab doch immerhin furchtbare Stöcke und Faulenzer, die ihm das Leben verbitterten.“…

Lokalpatriotismus

 

Episode 6 – „Örtligeischt“: (aus „kurze Lebensbeschreibung und Jugend-erinnerungen“ verfasst von Christian Tinner, geboren 1880)

Es kam leider im Dörfchen der „Örtligeist“ öfters zur Geltung und damit eine gewisse Verachtung.

Das geschah von einem Teil der Mitklässler gegen mich, weil ich eben „nur“ ein Frümsner war und weil ich die Rechnung (siehe Episode 3) richtig und zuerst gelöst hatte. Da wurde ich oft auf dem Heimweg von einer ganzen Rotte umzingelt, gepufft und mit Schimpfnamen beladen.

Als aber ein Mädchen mich herumriss, stellte ich mich mit dem Lineal zur Wehr und traf sie gerade in einen Schranz in der Schürze, der sich dann bis zuunterst verlängerte. Ihr Vater war aber Schulrat und kam am folgenden Tag während der Pause auf den Spielplatz. Ich sah ihn kommen. Ich überlegte rasch; wenn ich fliehe, erwischt er mich ein anderes Mal, ich sag’s lieber rasch dem Lehrer was los ist. Dieser hiess mich: „Bleb da!“ Der Schulrat kam her und wollte mich packen. Der Lehrer stand aber vor mich hin und fragte: „Herr Schulrat, was wollen sie hier?“ „Ebe dem chaibe Schnodere emol e par an Grind ai geh“. Lehrer: „Herr Schuelrot, do hond sie nünt z’toa, im Schuelhus und uf em Spielplatz bin i zueständig und sos niemert. Wenn si meined, si sigid im Recht, muessme das amene andere Ort usmache“.
Damit war die Sache erledigt und meine Liebe zum Lehrer voll.

Wie wäre es doch schön auf der Welt, wenn überall Gerechtigkeit und Schutz vor Gewalt zur Geltung käme. So wurde nun auch der Gang zur Schule für mich erleichtert: Der Lehrer warnte vor weiteren Plagereien und drohte dabei mit dem Lineal.

Tatzen in der Schule

 

Episode 5 – Tatzen in der Schule: (aus „kurze Lebensbeschreibung und Jugenderinnerungen“ verfasst von Christian Tinner, geboren 1880)

„Bis anfangs dritter Klasse war Herr Robert Bühler unser Primarlehrer. Seinen Unterricht genoss ich in vollen Zügen. Für manche Schüler, über welche ein anderer hinweg gegangen wäre, opferte er Geduld und Zeit, um sie, trotz ihrer Beschränktheit, doch noch zum Lesen und Schreiben zu bringen. Aber dennoch mussten Fortgeschrittenere nicht warten. Leider hiess es eines Tages plötzlich, es sei keine Schule mehr, der Lehrer sei fort.

Nach vielen Wochen ging die Schule wieder an. Ein neuer Lehrer kam. Sein Beginn gefiel mir doch gar nicht, er lautete ungefähr: „I bi jez euera Learer, die alt Schlamperei höart jez uf, i will eu jez denn emol ranschiera zum recht toa und lerna“. Der Lehrer blieb noch manche Jahre da. Ich machte bei ihm noch alle Klassen von 3-7 und ein Jahr Ergänzungsschule durch. Von den vielen Eindrücken, die ich da erhielt, erzähle ich lieber nicht viel. Sie trugen mir nicht viel Liebes ein.

Vier „Tatzen“, die ich von ihm auf meine schwachen Fädlerbubenhändchen erhielt, lösten in mir eine grosse Abneigung gegen ihn aus, denn ich war mir nie bewusst, womit ich sie hätte verdient haben sollen. Aber ich kann mich damit abfinden, weil andere Schüler – nicht alle – auch sehr oft körperliche Strafen erhielten, weil sie nicht zu antworten wussten. Vielleicht hat er nicht gewusst, dass man einem Gelehrsamkeit und Weisheit weder durch Hände noch durch die Haare oder den Hintern eingeben kann. In dieser Beziehung war er aber tatsächlich ein sehr geplagter Mann, denn es gab doch immerhin furchtbare Stöcke und Faulenzer, die ihm das Leben verbitterten.

Einmal konnte ich ihm eine grosse Freude machen. Er hatte angeordnet, dass am Morgen gebetet werden müsse und zwar jedes Mal der folgende oder die folgende und immer müsse es wieder ein anderes Gebet und niemals das „Unser Vater“ sein. Das gab Kopfzerbrechen.
Als ich an die Reihe kam, betete ich: „Vater im Himmel, wir rufen dich an, lehre uns wandeln die richtige Bahn. Lass uns erkennen was wahr ist und gut, gib es zu üben uns freudigen Muts. Eltern und Lehrer mit lobendem Sinn, führen zur Tugend zur Wahrheit uns hin. Segne, o Vater, ihr treues Bemühn. Amen.“ – Der Lehrer stand noch eine Weile mit gefalteten Händen mit rotem, gesenktem Kopf da.
Dann schaute er mich so lieb an, wie noch nie, kam zu mir her und fragte: „Tinner, woher hast du das?“ „Jo, das hani scho chönna vor i ha mösa i d’Schuel. S’Anneli und dr Andres hond das mösa lerna und do hanis halt o chönna“.
„So“, sagte er, „das Gebet muest du mir ufschriibe“ und zu den Schülern der 4.-7. Klasse „das müessender usswendig lerna, das ist s’best Schuelgebet“. Das hatte ich natürlich nicht beabsichtigt und es trug mir den Zorn vieler Mitschüler ein.
Durchgeführt wurde der Befehl nicht, gute Vorsätze blieben ja vo jeher meistens nicht ausgeführt.“