Die reiche Baslerin

 

Episode 12 – „Gute Menschen“: (aus „kurze Lebensbeschreibung und Jugenderinnerungen“ verfasst von Christian Tinner, geboren 1880)

„In den Jahren meiner Jugend lebten in vielen oder allen rheintalischen und werdenbergischen Dörfern viele, viele Familien in Armut und bitterer Not. So auch wir. Von Sozialorganisationen, die da zu helfen suchten, weiss ich leider nichts. Aber es gab doch gute Menschen, die den Armen viel, viel Gutes taten.

Im Gasthaus zum Löwen in Salez wohnte die Familie Heinrich Dinner. Der Vater war viele Jahre beliebter und berühmter Gemeindeammann der politischen Gemeinde Sennwald. Da war auch das Postbüro, das zumeist von der Tochter verwaltet wurde. Sie besassen auch viel Vieh und eine Fuhrhalterei und auch noch eine Mosterei. Selbstverständlich dazu auch eine umfassende Landwirtschaft mit sehr viel Ackerbau. Dass die Familie nicht allein all dieses Gewerbe besorgen konnte, liegt auf der Hand. Sie beschäftigten also auch viele Arbeitskräfte. Aber trotz dieser weitschichtigen Inanspruchnahme hatten sie immer Zeit, wenn arme Frauen oder Kinder um Rat oder Tat suchten. Wie oft hörte ich meine Mutter sagen: „S’Gmeindamma Lisabeath (so nannte man die Frau Gemeindeammann) oder s’Leuewirts Kathrili (das war die Tochter) het mer no ihi grüeft, luegend was hani übercho“ und hatte gewöhnlich gekochte Speisen für uns oder Obst. Beide waren auch immer bereit, Sorgen und Kümmernisse armer Frauen und Kinder anzuhören und möglichst guten Rat und Trost zu geben. Sie waren wahrlich Mütter der Armen des Dorfes.

Es gab noch mehr gute Männer und Frauen im Dorf und nicht viel ausgesprochen „Geizige“.

Aber eine aufsehenerregende Begebenheit trat noch im Jahre 1890 ein. Der Herr Pfarrer Jakob Sonderegger, der gewiss schon fast 50 war, nahm sich eine „sehr reiche“ Baslerin seines Alters als Frau. Das gab Neuigkeiten!
Sie gründete eine Sonntagsschule für die Kinder der unteren vier Klassen. Sie besuchte während des Herbstes alle Familien der Pfarrei Salez-Haag und sah sich um, ob Mangel oder gar Not da wäre, ohne irgendwie aufdringlich zu sein. Wenn dann bald Weihnachten kam, trug sie abends bei Dunkelheit, möglichst ungesehen, grosse und kleinere Pakete in die Hütten der Armen. Es waren Kleidungsstücke aller Art. Alle Kinder, auch Erwachsene, die Mutter und oft sogar der Vater, erhielten etwas.

Einmal als wir, ohne den Vater, um den Tisch sassen bei Kaffee und geschwellten Kartoffeln, klopfte es an die Stubentüre. Meine beiden Brüder meinten, es sei ein Nachbarbube. Johann hatte eine gebrochene Stimme und bellte wie ein Hund, Andreas rief laut: „Herein, es wird wohl kein Gaisbock sein“. Da kam aber, so unverhofft, Frau Pfarrer mit einem grossen Paket herein. Wir waren ganz bestürzt, die Mutter sehr erschrocken und bat um Entschuldigung. Frau Pfarrer lächelte freundlich und übergab der Mutter das Paket. Sie hatte unsere Familie reichlich bedacht. An der Weihnachtsfeier erhielt ich neben anderen Sachen das Neue Testament von Dr. Martin Luther, welches später für mich noch eine gar nicht unwichtige Rolle spielte.

Nun kam also bald der Frühling 1891 und liess mich in die fünfte Klasse steigen. Damit wurde ich auch am Sonntag kinderlehrpflichtig und wir hatten auf jeden Sonntag einen Abschnitt aus dem Neuen Testament erzählen zu lernen. Das tat ich gerne und, da es bequemes Taschenformat war, nahm ich es oft mit beim Ziegenhüten. Wenn ich mit der Ziege allein war, las ich viel darin und weinte oft darüber, weil man es ihm so schlecht machte und ihn gar noch so unschuldig zum Tode verurteilte und kreuzigte, während er doch so viele Wohltaten getan hatte.