Archive for Januar 2012

 
 

Reiche Verwandte

 

Episode 9 – „Misslungener Eingriff ins Schicksal“: (aus „kurze Lebensbeschreibung und Jugend-erinnerungen“ verfasst von Christian Tinner, geboren 1880)

„Es war im Sommer 1886, ein wunderschöner Sonntag, da machten meine Eltern und Geschwister irgend eine kleine Reise. Nur ich, der Erstklässler, musste zu Hause bleiben als „Pfleger“ der Ziege. So lieb mir auch unsere Ziege war, erbitterte es mich doch, dass gerade ich nicht mitgehen durfte. Aber ich hatte ja einen ganzen Tag Zeit genug herauszustudieren, wie ich mein „Los“ verbessern könnte.

In Haag, dem nächsten Dörfchen, hatte ein Bruder meines Vaters ein Heimwesen und war nach unseren Begriffen „sehr reich“, denn er hatte Pferde und etwas Vieh. Wenn wir hie und da dort einen Besuch machen durften, bekamen wir gut zu essen. Da er eine alte Frau hatte, waren sie kinderlos. Sie waren gut mit uns. Er war auch unser Götti. Er hätte immer gerne meine ältere Schwester Anna zu eigen annehmen wollen, aber unsere Eltern gaben sie ihm nicht. Diese Umstände ergaben für mich den „diplomatischen Angriffspunkt“.

Als am frühen Abend die Eltern und Geschwister heim kamen, fragte mein Vater, ob niemand gekommen sei. Die L ü g e: „Woll dr Götti, er het gsoat, wenn er s’Anneli nöd öberchömm, so chönn gad i zonem cho“. Der Vater sagte sofort: „ens ist mir no eher gliich“, packte meine Habseligkeiten zusammen, hiess mich die Schultafel selber tragen, nahm mich an die Hand und führte mich dem Kanal entlang nach Haag. Ich sehe immer noch, wie mein Schwamm an der Tafel hin und her baumelte und wie mein Gewissen immer stärker an meinem armen Herzli pochte. Als wir zum Götti kamen, wäre ich am liebsten in einem Mausloch verkrochen. Es entspann sich ungefähr folgendes: Vater: „Grüezi Andres, i bring der do de Christe“. Götti: „Jo was ist denn do loas?“ Der Vater war baff: „Du hest doch gseit, de Götti sei do gsi und heis gseit“. Götti: „Soa, soa, nei du gang du no wider hei, jez willi di erst recht nöd, en deriga strohlige Lüüger“.
Der Vater wurde recht traurig, nahm mich wieder an die Hand und kehrte mit mir heim. Ich weinte auf dem ganzen Weg und schämte mich grenzenlos. Der Vater sagte mir: „Chomm jez no, du chast denn wieder fädle, aber l ü ü g e tuestmer denn nie mea.“ Er schlug mich nicht, es war mir als würde er meine Hand zärtlicher halten als vorher. Ich glaube, sein Erbarmen war noch grösser als meine Scham und Reue.“

Bettlaub: Wie man sich bettet …

 

Episode 8 – „Bettlaub“: (aus „kurze Lebensbeschreibung und Jugend-erinnerungen“ verfasst von Christian Tinner, geboren 1880)

Wir kannten damals Matratzen nur dem Namen nach. Unser Nachtlager war Buchenlaub in einem Sack. Da die Berggemeinden Sennwald, Frümsen und Sax sehr viel Buchenwaldungen besitzen, konnte man, wenn man von einer dieser Ortsgemeinden Bürger war, in die betreffenden Waldungen Laub sammeln gehen; dies jedoch nur wenn „s’Looba offen war“. Also nur an Tagen, da die Behörde es als erlaubt erklärte.

Als ich etwa 4-5 Jahre zählte, durfte ich eines heftigen Föhntages mit der Mutter und mit Andreas, meinem älteren Bruder, in das Laub nach dem Frümsnerberg. Man konnte an solchen Tagen in gewissen Mulden stubentief angehäuftes Laub antreffen, das vom Föhn zusammengeweht worden war.
Da hatte ich die Aufgabe, die Ästchen und Reiser herauszulesen, während Mutter und Andreas so viel als möglich in Säcke füllten, die so gross waren, dass sie gerade in eine Bettstelle passten.

Am Abend haben Mutter und Bruder diese Säcke zu Tal geschlittelt und mussten den Weg mehrmals machen. Unterdessen hatte ich Befehl, oben bei den gefüllten Säcken zu bleiben. Es wurde aber dunkel und immer dunkler und in dem Gebüsch schien es mir zu rascheln; ich hörte Füchse bellen und in der Nähe fing es an unheimlich zu schreien: —Uuuh, Uuuuh, Uuuuuhuu —. Da war mein Mut zu Ende, ich fürchtete mich sehr.

Ich glaubte den Weg zu Tal sicher zu wissen und verliess die Säcke, um hinunter zu gehen, aber ich verlor die Richtung und verirrte mich in eine tiefe Mulde und hungerte unsäglich. Total ermüdet setzte ich mich auf einen Stein und schlief ein. Die Mutter und der Bruder aber erschraken sehr, als sie, bei ihrer Rückkehr auf dem Berge, mich nicht mehr bei den Säcken fanden. Der Bruder musste ins Tal hinab und eine Laterne entlehnen.
Dann suchten sie mich stundenlang und fanden mich endlich. Ich hatte geschlafen und erwachte vom lauten Schimpfen der Mutter, die mit einer zünftigen Rute auf mich zukam. Wie wäre ich doch gerne geflohen, aber wohin? Wie froh war ich, als die Strafe vorüber war und ich wieder etwas zu essen bekam. Das ist aber trotzdem nicht der einzige dumme Streich geblieben, den ich gemacht hatte.

Das Dorf brennt

 

Episode 7 – „Brand in Rüti-Moos“: (aus „kurze Lebensbeschreibung und Jugenderinnerungen“ verfasst von Christian Tinner, geboren 1880)

Die folgenden Schuljahre gingen ihren Lauf. Ziegen hüten, Schule gehen, fädeln und seltener irgend eine andere Arbeit. Im Jahre 1890 musste ich jede Woche nach Sennwald zu nahen Verwandten als Fädlerbub gehen und auch „Kindsmagd“ sein. Die Frau war die jüngste Schwester meiner Mutter; sie und ihr Mann hatten viel bösen Streit.

Am Eidg. Bettag 1890 brannte bei heftigem Föhn Rüti-Moos. Als ich dann am Montag nach Sennwald kam, sagte die Tante: „Soa, du chast jez gaad of Rüti ei go dr Frei sueche, er ist am Samstig of Altsteta ei go dr Zahltag hola und ist äll no nöd haa cho. Jez wird’r woll z’Rüti un sii und s’Geld versoffa ha, de Glünggi.“
Ich war barfuss und nur mit Hose und Hemd bekleidet. Das ganze Dorf Rüti lag in dickem Rauch und grossem Unglück. Wenige Meter von verbrannten Häusern sah ich jammernde Frauen mit ihren Kindern in Wiesen unter Bäumen.
Bei den Feuerwehren sah ich auch meinen Vater mit rauchverröteten Augen und ermüdet; sie hatten am Bettag die ganze Nacht und auch noch den langen Morgen gearbeitet.
Den Vetter Frei aber fand ich nicht.

Lokalpatriotismus

 

Episode 6 – „Örtligeischt“: (aus „kurze Lebensbeschreibung und Jugend-erinnerungen“ verfasst von Christian Tinner, geboren 1880)

Es kam leider im Dörfchen der „Örtligeist“ öfters zur Geltung und damit eine gewisse Verachtung.

Das geschah von einem Teil der Mitklässler gegen mich, weil ich eben „nur“ ein Frümsner war und weil ich die Rechnung (siehe Episode 3) richtig und zuerst gelöst hatte. Da wurde ich oft auf dem Heimweg von einer ganzen Rotte umzingelt, gepufft und mit Schimpfnamen beladen.

Als aber ein Mädchen mich herumriss, stellte ich mich mit dem Lineal zur Wehr und traf sie gerade in einen Schranz in der Schürze, der sich dann bis zuunterst verlängerte. Ihr Vater war aber Schulrat und kam am folgenden Tag während der Pause auf den Spielplatz. Ich sah ihn kommen. Ich überlegte rasch; wenn ich fliehe, erwischt er mich ein anderes Mal, ich sag’s lieber rasch dem Lehrer was los ist. Dieser hiess mich: „Bleb da!“ Der Schulrat kam her und wollte mich packen. Der Lehrer stand aber vor mich hin und fragte: „Herr Schulrat, was wollen sie hier?“ „Ebe dem chaibe Schnodere emol e par an Grind ai geh“. Lehrer: „Herr Schuelrot, do hond sie nünt z’toa, im Schuelhus und uf em Spielplatz bin i zueständig und sos niemert. Wenn si meined, si sigid im Recht, muessme das amene andere Ort usmache“.
Damit war die Sache erledigt und meine Liebe zum Lehrer voll.

Wie wäre es doch schön auf der Welt, wenn überall Gerechtigkeit und Schutz vor Gewalt zur Geltung käme. So wurde nun auch der Gang zur Schule für mich erleichtert: Der Lehrer warnte vor weiteren Plagereien und drohte dabei mit dem Lineal.