Wie unsere Strassen entstanden
(Teil 3 der vierteiligen Artikelserie zum Thema Verkehrswege)
Auszug aus dem Appenzeller Kalender Ausgabe 1915, Autor Sal. Schlatter:
Der letztjährige Kalender erzählte ein wenig von alten Wegen und Stegen im Land. Diesmal möchte ich berichten, wie wir zu den neuen Strassen gekommen sind. … Den Anstoss gab der gute Fürstabt Beda von St. Gallen, oder vielmehr die schwere Hungersnot der Jahre 1770 und 1771. Um seine Untertanen nicht einfach verhungern zu lassen, kaufte er in Italien Getreide zusammen. Dieses wurde nach Bellinzona im Tessin geliefert, wo es liegen zu bleiben drohte wegen Mangel an Saumpferden zum Transport über den Splügen [?]. Deshalb blieb nichts anderes übrig, als eine Trägerkolonne von 460 Mann hinzuschicken, welche die Kornsäcke über die Alpenpässe bis ins Rheintal zu tragen hatten. … Diese schwere Zeit öffnete wenigstens den Einsichtigen die Augen für die verhängnisvollen Folgen des Mangels an guten Verkehrsmitteln, die den Austausch der Landesprodukte zwischen den Gegenden mit verschieden geratener Ernte ermöglichen.
Allerdings ging’s auch jetzt noch nicht so leicht. Alter Schlendrian und alte Vorurteile wurzelten noch tief. Abt Beda hielt schon im Jahre 1770 eine Konferenz mit den Stiftsherren und Beamten seiner Regierung ab, in der er diesen die Notwendigkeit einer Strasse von Rorschach über St. Gallen nach Wil klar zu machen suchte. Da wurde noch gesagt, die Schweiz sei mit schlechten Wegen zu Kriegszeiten sicherer und besser geschützt. Auf einer guten Strasse werde mehr geflucht und auf die Pferde losgeschlagen, als auf einer überhaupt nicht brauchbaren, weil man mehr aufladen und schneller fahren wolle. Zudem verleite man damit die Leute nur zu grösserem Aufwand, es sei durchaus nicht nötig, dass die Bauern anfangen in der Kutsche zu fahren. Auch habe die Regierung nicht die Pflicht, den Untertanen eine gute Strasse zu machen; wer sie braucht, solle sie auch zahlen! Es war ja bis dahin allgemein Sitte, dass die anstossenden Grundbesitzer auch die Landstrasse zu unterhalten hatten, wie jetzt noch ihre eigenen Privatwege, höchstens dass solche, die die Strasse besonders stark brauchten, daran Beiträge zu leisten hatten. So musste z.B. die Stadt St. Gallen jedesmal im Herbst, vor Beginn der Weinfuhre aus dem Rheintal die Strasse von Rorschach her ein wenig verbessern helfen.
Nach vielen Schwierigkeiten, die ihm von allen Seiten gemacht wurden, setzte der Abt doch den Bau dieser wichtigen Hauptstrasse durch. …
Am raschesten folgten dem gegebenen Beispiele die Rheintaler.
Der starke Durchgangsverkehr von und nach Graubünden und Italien hatte dort seit langem das Verständnis dafür geweckt. Schon im Jahr 1777 folgten die dortigen Gemeinden der Aufforderung des Abtes zur Erstellung einer neuen Landstrasse. …
Wir dürfen uns dabei aber noch nicht etwa Landstrassen nach unsern heutigen Begriffen vorstellen. … Es waren noch sehr bescheidene, schmale, furchtbar steile Strassen, heute nur noch etwa Waldstrassen vergleichbar, aber doch endlich Wege, die mit Wagen befahren werden konnten und eine bessere Zufuhr ermöglichten.
Das Toggenburg hatte sich einem Versuche des Abtes Leodegar, die anstossenden Gemeinden zum Bau einer Strasse über Hummelwald [Ricken] zu veranlassen, noch im Anfang des Jahrhunderts so kräftig widersetzt, dass schliesslich der Krieg des Jahres 1712 daraus entstand. Damals witterte man noch überall Religionsgefahr. Auch jetzt noch musste die Anregung von aussen kommen. Die Reichsstadt Ueberlingen am Bodensee machte im Jahr 1784 die Kantons Schwyz und Glarus auf den Vorteil aufmerksam, den diese von einer direkten Verbindung gegen Rorschach hin für die bequeme Zufuhr des schwäbischen Getreides hätten. Diese bauten nun eine Strasse durch das Uznacher- und Gasterland, ihr Untertanengebiet, und baten um Weiterführung über den Hummelwald nach Liechtensteig. Das half endlich. Im Jahr 1786 erklärten sich alle Gemeinden, durch welche die Strasse führen sollte, zum Bau bereit. Nun entstand ein eigentlicher Wetteifer. Ueberall im Toggenburg ging das Strassenbauen los. Alle Täler wiederhalten von den Sprengschüssen, allerorts wurde gegraben und aufgeschüttet. … Um die Kosten aufzubringen, wurde mit manchem alten Schlendrian gebrochen. Im Rheintal wurden die riesigen Rietflächen, das Bauriet und das Isenriet, im Toggenburg die weiten Alpgebiete zu besserer Bewirtschaftung unter die Gemeinden verteilt, nachdem sie bisher einfach der allgemeinen Benutzung durch die ganze betreffende Talschaft offen gestanden waren. Es war so etwas wie der Anfang einer neuen Zeit. …
Die schweren Jahre von 1813 bis zum Ende der Hungersnot von 1816-1817 waren solchen Werken nicht günstig. Der immer steigende neuzeitliche Verkehr zeigte aber täglich mehr, wie wenig ihm die Wege gewachsen seien, die man in der beschriebenen Zeit noch mit bescheidenen Mitteln und ohne rechte Kenntnisse und Erfahrungen hergestellt hatte. Es bildete sich auch erst nach und nach der Stand der Ingenieure heran, welche die nötige technische Bildung für die richtige Durchführung von Strassen, besonders in unserem schwierigen Gebirgslande besassen. In den 20er und 30er Jahren des 19. Jahrhunderts begann die Zeit, in der eigentlich erst kunstgerechte Landstrassen im heutigen Sinne entstanden. … Bei diesen Arbeiten erschienen in unserer Gegend zum ersten Mal italienische Arbeiter, ohne die wir uns heute irgend eine grössere Baute gar nicht mehr denken können. …
Am 1. Mai 1842 endlich konnte zum ersten Male ein grosser Postwagen die ganze Strecke befahren: die erste direkte Fahrverbindung St. Gallen – Trogen – Altstätten – Feldkirch! Der Ruppen war bis dahin unfahrbar und im Winter oft wochenlang überhaupt unpassierbar gewesen. …
Noch wurde nach der Fertigstellung überall Weggeld von jedem Fuhrwerk und Reiter bezogen, das den Unterhalt decken sollte. … Da kann man sich denken, wie vergnügt die Fuhrleute und Reisenden allerorts die neue Bundesverfassung vom Jahre 1848 begrüssten, die endlich den Grundsatz aufstellte: Ein freier Weg durchs ganze Land!
Wenn heute [1915!] jener Klosterherr von St. Gallen, der gegen das schnelle Tempo und das Kutschenfahren der Bauern war, den Verkehr auf unseren Strassen sehen könnte, das Auto rattern und das Velo klingeln, die Strassenbahn surren und den schweren Motorlastwagen rumpeln hören würde, was würde er wohl dazu sagen? …
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